Der „ungläubige“ Thomas
In der Bibel heißt du Thomas,
aber im alltäglichen Leben hast du ganz viele Namen.
Mit diesen Menschen, egal wie sie heißen,
hast du gemein, dass du nicht alles hinnimmst,
dass du selbst sehen, nachvollziehen möchtest, was andere dir sagen.
Vielleicht bist du zu oft enttäuscht worden,
Menschen haben dir etwas erzählt – und hernach war alles ganz anders;
du hattest große Hoffnungen entwickelt, und dann war alles umsonst.
Bevor ich jemandem blindlings meinen Glauben schenke,
möchte ich Beweise haben – würde ich in einer solchen Situation denken:
Mich legt keiner mehr rein.

Oder war in dir die Angst,
die anderen hätten sich hinters Licht führen lassen
und ihr Vertrauen irgendeinem geschenkt, der vorgibt, jemand zu sein,
der er gar nicht ist?
Das wäre sicherlich nicht das erste Mal,
dass Menschen anderen Menschen nachlaufen, die sie täuschen,
die sagen „Seht her, ich bin es!“;
dass sie auf Versprechen hereinfallen, die leer sind, bedeutungslos,
hohle Worte nur.
Hatte nicht genau davor der so brutal hingerichtete Jesus gewarnt
und gesagt: Lauft ihnen nicht nach, wenn da welche sind,
die unter seinem Namen auftreten?
Hast du es für möglich gehalten,
die anderen Jünger wären auf einen Betrüger herein gefallen?

Dein Zweifel ist stark.
Er lässt erkennen, dass du nicht verletzt werden möchtest;
er lässt erkennen, wie einzigartig Jesus für dich ist.
Du willst nicht, dass jemand anderes seinen Platz einnimmt.
Lieber hältst du es aus, dass es vorbei ist,
dass er sich nicht mehr rührt.
So ist das Leben! So kennst du es. Es geht nicht ewig weiter.
Der Tod setzt ein Ende. Damit muss man sich abfinden.
Man muss wissen, wenn es vorbei ist,
man muss es nicht nur wissen, man muss es auch annehmen.
Und wer anderes sagt, wird sehen.

Dein Zweifel ist Realitätssinn. Ehrlich ausgetragen.
So beeindruckend, dass wir heute noch davon sprechen,
ihn zutiefst sympathisch finden und sagen:
wie gut tut es, dass es dich gibt, dein bohrendes Fragen,
deine redliche Ansage.
Denn damit hat auch unser Zweifel Raum und Ausdruck,
ich muss mich dessen nicht schämen.
Ich bin nicht der erste, der denken würde:
ich möchte in meinem Glauben nicht enttäuscht werden.
Oder:
Das, was die anderen verkünden, was sie vorgeben, erlebt zu haben,
spricht mich nicht an, weckt nichts in mir, ist mir sogar unverständlich.
Wie du haben Menschen immer gedacht –
und wenn heute die Verkündigung, das Glaubenszeugnis der Kirche
oder all jener, die aus der Gegenwart Jesu, aus seiner Auferstehung leben,
andere nicht erreicht, nicht überzeugt, dann ist das nicht neu,
dann gehört das dazu, dann ist das sogar auch in der Bibel zu finden.

Aber was hat dann alles anders gemacht, was hat dich anders gemacht,
den Zweifel in ein viel größeres Licht gestellt,
in einen anderen Zusammenhang?
Deinen Charakter wirst du nicht verändert haben,
dass du den Dingen auf den Grund gehen willst,
dass du dir kein X für ein U vormachen lassen willst.

Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstehe,
aber ich glaube, du hast etwas erlebt, dir ist etwas aufgegangen.
Ich formuliere es so:
Je mehr sich ein Mensch traut, seine Wunden zu zeigen,
umso glaubwürdiger ist er.
Das kenne ich aus meinem Alltag,
dass Gespräche, dass Begegnungen an Tiefe gewinnen,
wenn Menschen ihre Wunde, ihre verletzte Seite nicht verbergen.
Das lässt mich nicht kalt, ich werde berührt,
bin nicht mehr nur zuhörend.

Die Wunden machen einen Menschen echt und unverwechselbar.
Wer seine Verletzungen sprechen lässt,
hat anderen viel zu sagen und zu geben.
Oft denke ich, wie anders könnten wir alle heute Kirche sein,
wenn die Wunden der von der Kirche und vom Leben Enttäuschten,
wenn die Verletzungen der von der Kirche Abgewiesenen
gesehen würden, sich zeigen könnten.
Nicht auszuschließen,
wir würden plötzlich den in den Wunden Tragenden erkennen,
den du erkannt hast.

Ohne dich, Thomas, gingen wir zu schnell über die Wunden hinweg.
Vielleicht war es vor allem das, was dich zweifeln ließ:
wer nach Ostern die Wunden übersieht, sie nicht mehr sprechen lässt,
nicht mehr von ihnen ausgeht,
der kann nicht von Ostern reden,
der kann nicht von Christus ausgehen.

Du bist von Christus ausgegangen, die ganze Zeit.
Denn das ist er für dich: der, der seine Wunden sprechen lässt,
der, der sich von seinen Verletzungen leiten lässt.
Weil es ihn tief im Inneren rührte, erschütterte, zum Weinen brachte,
das Herz zerriß, rief er den Lazarus aus der Grabhöhle.
Weil es ihn verwundete, wie Menschen miteinander umgingen,
formulierte er die Bergpredigt.
Weil es ihn verletzte, wütend machte,
wie die „Gottesmänner“ Zugänge zu Gott versperrten
und sich selbst auf den Stuhl des Mose setzen,
kritisierte er sie und setzte dafür sein Leben aufs Spiel.
Du hast einen sich zutiefst anrühren lassenden Jesus erlebt.
Weil er über die Not der Menschen nicht hinwegging,
litt er selbst große Not.
Weil er die Menschen vor allem als Verwundete, als Verlorene sah,
denen unbedingt nachzugehen ist,
wurde er selbst verwundet und zu den Verlorenen gezählt.

Diese Erfahrung, dieses Erleben
wolltest du nach Ostern nicht über Bord werfen;
das wolltest und willst du weiter sehen,
denn nur dann hat es für dich mit Christus zu tun,
nur dann ist er selbst da und gegenwärtig im Kreise aller,
die sich auf ihn berufen.

Ich bin froh,
dass wir mindestens am Sonntag nach Ostern jedes Jahr von dir hören.
Du sagst mir:
geh nicht über die Wunden hinweg,
weder über deine eigenen, noch die der anderen.
Sie sorgen für Glaubwürdigkeit.
Kirche ist nur dann Kirche Jesu, wenn sie die Wunden der Menschen sieht
und in ihnen Christus.
Nimm uns an die Hand, Thomas, hilf uns, die Wunden zu ertasten,
sie zu fühlen, den Schmerz wahrzunehmen.
Hilf uns zu fragen: wer hat das gemacht? Wer hat dich verletzt?
Wie konnte es dazu kommen?
Ich glaube, an deiner Hand verstehen wir mehr vom Leben,
mehr vom Glauben.
Ich glaube, an deiner Hand ergänzen wir das Wort Jesu
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ und sagen:
Selig sind, die glauben, indem sie sehen.

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