4. Advent 2020
Gerissen, teilweise hohl, aufgeplatzt, kaum unversehrt:
jede der Holzkugeln schaut anders aus, je nachdem, wie sie gewachsen ist.
Seltsamerweise empfinden wir bei ihnen die Lebensspuren nicht als hässlich,
im Gegenteil: sie sorgen für einen besonderen Reiz, für Individualität.
Ich denke an so manche biblische Figur,
von der wir zumindest sagen: sie ist schillernd,
sie ist nicht glatt, sie ist nicht heil.
Mose zum Beispiel.
Er ist nicht nur der große Anführer des Volkes Israels ins Gelobte Land,
Mose übt auch Rache,
als er einen Ägypter, der einen israelitischen Sklaven schlägt, umbringt
und seine Leiche im Sand versteckt.
König David ist nicht nur der Psalmendichter,
er ist auch der, der in seinem Privatleben vor Mord und Ehebruch
nicht zurück schreckt.
Und wenn wir vor Weihnachten die Namen des Stammbaums Jesu
hören oder lesen, dann verzeichnet er manche Namen,
deren Leben zwielichtig ist:
da ist Bathseba, die Frau des Uria, mit der David die Ehe brach;
da ist Rahab, die Hure,
die die israelitischen Kundschafter in ihrem Haus versteckte;
da ist Tamar, die die beiden älteren Söhne des Juda zur Frau gehabt hatte,
die beide starben, und sie blieb kinderlos.
Ihr Schwiegervater Juda hätte ihr nach altisraelitischem Recht
seinen dritten Sohn zur Frau geben müssen, was er allerdings nicht tat.
Tamar verkleidete sich darauf hin als Hure,
und Juda verkehrte mit ihr, ohne sie zu erkennen.
Vorausschauend
ließ Tamar sich bei dieser Gelegenheit von ihm ein Pfand geben.
Als sie schwanger wurde,
wollte Juda sie zur Strafe für ihre Hurerei töten lassen –
bis er an ihrem Pfand erkannte: er selbst war der Mann gewesen!
Und Tamar blieb am Leben.
Manch weitere Geschichten ließen sich anführen,
die des Petrus, den Jesus einmal als Satan anfährt,
und der später Jesus verleugnet.
Keine der biblischen Gestalten ist heil und glatt.
Und keine unserer Lebensgeschichten ist heil und glatt.
Dennoch sind die erwähnten biblischen Figuren wie alle anderen
und wie wir selbst auch nicht ohne Bedeutung.
Offensichtlich geht Gott nicht von einem bruchlosen, Furchen freien
oder heilem Leben aus.
Er baut Menschen so wie sie sind in Seinen Heilsplan ein.
Das sagt sich so einfach – und ist doch schwer auszuhalten,
insbesondere dann, wenn etwas in unserem Leben zerbricht:
eine Beziehung oder eine Freundschaft,
ein Lebenstraum oder eine große Hoffnung,
wenn wir einen Riesenfehler machen oder genau wissen,
nur mit Trickserei zu einem Ziel zu kommen wie die eben erwähnte Tamar.
Am Ende sieht es immer anders aus; am Ende fällt es leicht zu sagen:
Gott schreibt auf krummen Linien gerade.
Aber mittendrin im Leben, wenn es drunter und drüber geht, nicht.
Genau deshalb brauchen wir die biblischen Geschichten,
denn sie lehren uns den langen Atem;
sie helfen uns,
dass wir uns in den Fäden und Fängen des Alltags nicht verfangen.
Und sie lehren uns noch etwas:
das Heil kann gerade dort beginnen, wo wir eher Ende und Aus sehen.
Wie sehr steht Maria dafür:
unerwartet schwanger, Josef nicht der Vater,
aber indem sie annimmt, was ist, indem sie Gott wirksam sein lässt,
wird alles anders:
auf sie wartet nicht das Gesetz der Steinigung,
sondern Josef, der sich ihrer annimmt;
und sie bringt den zur Welt, von dem ihr andere, Engel und Hirten sagen:
Gottes Sohn.