Jahreswechsel 2019
Wir schließen ab.
Es gibt Dinge, da sind wir froh, sie hinter uns zu lassen.
Ein Jahr, vielleicht auch ein Jahrzehnt, begrenzt:
das Jahr, in dem das und das passiert ist – sagen wir.
Wir schließen ab, um zu ordnen, zu sortieren.
Wir brauchen Ordnung, eingeteilte Zeit, portioniert.
Wenn alles immer auf einmal präsent wäre: nicht auszuhalten.
Abschließen bedeutet, hinter sich zu lassen, loslassen,
nicht mehr sehen zu können oder nicht mehr sehen zu wollen. Irgendwie auch Seelenhygiene.
Zeit wird uns handhabbar, in dem wir sie einteilen,
Sekunde für Sekunde, Jahr für Jahr.
Dennoch sind Jahre keine Aktenordner.
Wir stellen sie nicht in die Ecke und greifen unbefangen zu einem neuen, schon deswegen nicht, weil wir nicht wissen,
wieviel „Ordner“ uns zur Verfügung stehen;
und deswegen nicht, weil wir nicht überschauen,
was alles im neuen Ordner abzulegen ist;
und weil die vielen Blätter, die wir ablegen,
dennoch auch Spuren in uns hinterlassen.
Um Bild zu bleiben: wir zeichnen nicht nur, wir werden auch gezeichnet. Es gibt Abnutzungserscheinungen.
Alles, was wir zurücklassen, ablegen, bleibt dennoch irgendwie in uns. Wir sind kein Sortierschrank,
in dem alles säuberlich voneinander getrennt abgelegt ist, nebeneinander liegt, nichts miteinander zu tun hat.
Im Gegenteil: alles hängt zusammen, beeinflusst einander.
Wir lernen das von der Natur:
nur eine scheinbar kleine Bewegung ändert alles.
Fast zu harmlos formuliert es das chinesisches Sprichwort:
„Das leichte Flattern der Flügel eines Schmetterlings
mag bis zur anderen Seite der Welt spürbar sein.“
Es sind die vielen Kettenreaktionen,
so viele und mitunter so miteinander verbunden,
dass man nicht sagen kann, was wofür jetzt genau verantwortlich ist. Wir sind kein fein sauber aufgewickeltes Wollknäuel,
das einfach so abläuft, der Faden ist viel mehr immer wieder verknotet, und man bekommt nicht jeden Knoten gelöst.
Manchmal ist es einfach nur Glück,
an der richtigen Stelle gezogen zu haben, so dass es weiter geht.

Kurz gesagt: wir wissen nichts, wir übersehen nichts. Zwar gibt es Erfahrungswissen – aber es genügt nicht. Das Leben, unser Leben ist zu verworren.
Wir sprechen von Entwicklung, und erleben sie auch.
Ein Mensch entwickelt, entfaltet sich –
das Wissen nimmt zu, die Bücher, die Erklärungen, der Fortschritt, aber auch die Wunden –
und wir wissen zugleich, dass jede beantwortete Frage
mehr als eine neue aufwirft.
Und darum schließen wir nie ab, wir bleiben dran, leben mit dem Leben als offenes Geheimnis.
Wir haben in der Lesung vom Segen des Aaron gehört,
dem ältesten überlieferten Segensspruch der Bibel.
Der Herr segne dich.
Soll heißen: Gott sei mit dir, Gutes soll dir zuteil werden.
In jeder Messfeier drückt sich dieser Wunsch, diese Bitte aus: viermal hören wir: Der Herr sei mit euch.
Genau gesehen ist es ein Austausch eines Segenswunsches. Inmitten all des Chaos, das uns umgibt,
das wir nicht zu ordnen vermögen, so dass wir es los würden, sprechen wir uns die ordnende Macht Gottes zu,
uns gegenseitig, die eine dem anderen. Wir leben vom Zuspruch.
Der Herr sei mit euch:
Dem Herrn, Gott trauen wir zu, dass Sein Wort, Seine Gegenwart ordnet, wirklich begrenzt, scheidet:
das Licht von der Finsternis, das Wasser vom Land, den Tag von der Nacht, das Leben vom Tod.
Wir werden – schon durch die Formulierungen –
an den Schöpfungsbericht erinnert;
und wirklich: der Segen Gottes bedeutet nie Abschluss, aber immer Anfang.

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