B 13 2018 Mk 5, 21-43
Steh auf.
Aufstehen macht das Leben und macht lebendig sein aus.
Wer nicht mehr aufstehen kann, ist zumindest beeinträchtigt – oder tot.
Aufstehen ist nicht immer so leicht.
Wer steht schon leichtfertig auf und erhebt seine Stimme,
besonders dann, wenn er mit seiner Meinung,
mit seiner Einstellung allein zu sein scheint?
In Zeiten von starker Meinungsmachenden erkennen wir mehr und mehr,
dass sich bildende Mehrheiten keine Garantie für Wahrheiten sind.
Die Wahrheit ist nicht unbedingt da, wo es laut zugeht,
oder wo die Massen hinströmen.
Umfragewerte von Politikern oder zu politischen Themen
mögen offenbaren, wie die Menschen denken;
wie allerdings dieses Denken zustande kommt
und ob es in eine Richtung geht, die Zukunft eröffnet,
darüber wissen die Umfragewerte nichts.
Aufstehen und sich gegen eine Menge stellen braucht Mut und Kraft.
Mir fällt der Mut der Menschen ein,
die alljährlich im Sommer auf den CSD Paraden
an den ersten bekannt gewordenen Aufstand von Homosexuellen
und anderen sexuellen Minderheiten
gegen die Polizeiwillkür in der New Yorker Christopher Street erinnern;
mir fällt die Diskussion um das 3. Geschlecht ein:
Menschen, die sich in das heteronormale Geschlechtssystem
nicht einordnen lassen oder lassen wollen
und das Getuschel hinter ihrem Rücken;
mir fallen die mühsamen Wege der Inklusion von behinderten Menschen ein;
und leider muss man immer noch und vielleicht mehr als sonst
die immer schärfer werdenden Asylgesetze nennen,
für deren Umsetzung sich mehr und mehr eine laute Masse bildet,
die sich breit macht und der Menschen egal sind,
so wie der großen Menschenmenge um Jesus herum
die an Blutungen leidende Frau egal war.
Jede und jeder von uns könnte Beispiele hinzufügen, die bezeugen,
wie sehr Aufstehen und sich gegen eine Menge stellen
Mut und Kraft braucht.
In der Kirche nicht anders.
In diesen Tagen ist von einem Dogmatikprofessor aus Münster zu lesen:
„Die Kirche ist so lange nett, wie man sagt, was sie gerade hören will.
Macht man das nicht, gibt es Ärger.
Der aber wird gerade für Priester umso schwerer erträglich,
je mehr die Kirche sich zu ihrer Ersatzfamilie stilisiert
und Unterschiede in Sachfragen persönlich werden.“
Die Kirche habe „mütterliche Züge, aber auch stiefmütterliche“.
(„Ihre kritischen Kinder werden verketzert,
unliebsame Theologen werden überwacht, denunziert,
und auf absurde Weise wird versucht,
sie zu ideologischer Konformität zu zwingen.“ (Michael Seewald))
Aufstehen und sich wagen bedeutet eine Herausforderung –
immer und überall,
besonders, wenn man eine Minderheit ist oder gebrandmarkt.
Die Frau, die solange an Blutungen litt:
sie boxt sich regelrecht durch.
Die, die sich wegen ihrer Krankheit von allem fern zu halten hatte,
bahnt sich einen Weg durch die Menge;
die, die niemanden berühren durfte, berührt das Gewand Jesu.
Von hinten drängt sie sich an Ihn heran,
sie schämt sich, sie weiß, dass sie das eigentlich nicht darf,
dass sie damit gegen die Regeln verstößt.
Die Kraft in ihr zum Aufstehen ist größer, ebenso ihr Mut,
etwas zu riskieren, für das sie brüsk zurückgewiesen werden könnte,
für das sie öffentliche Demütigungen hätte erfahren können
gerechtfertigt abgewiesen.
Eben darum lässt Jesus es vermutlich nicht still und leise geschehen,
sondern fragt danach, wer sein Gewand berührt hat.
Und noch einmal hat die Frau den Mut und stellt sich.
Und findet Bestätigung, indem sie vor allen Leuten erfährt:
es war richtig, sich aufgemacht zu haben,
es war richtig, sich nicht von der Menge abhalten zu lassen,
es war richtig, sich über Grenzen hinwegzusetzen.
Aber dann gibt es auch die,
die aus eigener Kraft nicht mehr aufstehen können,
die, aus denen Hoffnung, Mut und Leben gewichen sind:
das zwölfjährige Mädchen, in einem Alter,
das zur Zeit Jesu den Übergang zur vollen Reife bedeutete,
ist ohne Antrieb und Zukunft, starr, aufgegeben von den Leuten.
Bemüh dich nicht – sagen sie, da ist nichts mehr zu machen.
Wir wissen nicht, was sie hat sterben lassen,
aber dass sie gerade in ihrer Übergangszeit stirbt,
wird nicht ohne Bedeutung sein.
Fast könnte man annehmen,
der Evangelist sieht beide Heilungen zusammen,
immerhin verbindet sie die Zahl zwölf:
zu dem Zeitpunkt, wo die blutflüssige Frau erkrankt,
wird die Tochter des Synagogenvorstehers geboren.
Zwölf Jahre vergehen.
Dem Mädchen scheint jede Chance genommen, ins Leben zu gehen –
wäre da nicht einer, der sie an die Hand nimmt,
anders als ihr Vater und all die Umstehenden, die das so nicht vermögen.
Will heißen: es gibt Dinge, die können die liebsten Menschen nicht,
mag ihre Anteilnahme am eigenen Leben noch so groß sein,
sie reicht nicht heran die Anteilnahme Gottes,
an die in Jesus hingehaltene Hand.
Das Mädchen kann – anders als die blutflüssige Frau –
seine Hand nicht mehr ausstrecken, um Hilfe zu erbitten;
aber Jesus streckt Seine Hand aus, um Hilfe zu gewähren.
„Ich sage dir, steh auf!“
Wer das sagt, wer dazu auffordert, der muss wissen, dass es sich lohnt.
Und diese feste Überzeugung Jesu gibt auch dem Mädchen Kraft,
selbst aufzustehen.
Dann wähle ich mal die Kommentarfunktion. Gute Idee!
Die Predigt war sehr gelungen! Wer hören wollte, konnte viel hören. Danke dafür. Beide Frauen zusammen zu sehen – eine für mich neue, aber einleuchtende Idee. (Und ich dachte an den archetypischen Raum, die unterschiedlichen Lebensaltersphasen…) Diese Erzählung hat viele Facetten und es war gut, diesen Erzähl- und Bezugsfaden zu wählen. Danke!