C 8 2019 Lk 6, 39-45
Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen?
Natürlich nicht – sagen wir.
Dennoch wissen wir um die sogenannten „blinden Flecken“,
dass es sie gibt – und dass wir sie haben:
wir sehen an uns selbst nicht alles, wir sehen in uns selbst nicht alles.
Es gibt Schätzungen, die davon ausgehen,
dass noch nicht einmal 1% dessen, was das Gehirn gerade tut,
uns bewusst wird.
Dann gibt es das sogenannte Unbewusste, uns nicht sichtbare,
das unser Handeln stark bestimmt,
das wir uns als Bauchgefühl zum Beispiel zunutze machen:
Bauchgefühl können wir nicht begründen, aber es wirkt
und lässt uns mal richtige, mal falsche Entscheidungen treffen.
Das heißt aber auch: wir sehen für uns selbst nicht genau –
geschweige denn, dass wir in die Zukunft blicken könnten
oder zu sehen vermöchten, welche Auswirkungen
bestimmte Ereignisse im eigenen Leben haben,
oder was selbst die kleinsten Weichenstellungen in der Vergangenheit
hätten verändern können.
Wie kompliziert ist es darum im Miteinander,
in der Familie: Eltern den Kindern gegenüber,
die erwachsenen Kinder den älter werdenden Eltern gegenüber;
Therapeuten in Therapiegesprächen,
in der Seelsorge Tätige im Verhältnis zu den anvertrauten Menschen:
immer sehen wir zu wenig – und müssen unsere Blindheit einplanen.
Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen?
Genau diese Frage macht nicht wenigen heute
ihr Verhältnis zu unserer Kirche schwer.
Sie fragen sich und die Kirche, ob sie gesehen werden in ihrer Wirklichkeit:
nach einer gescheiterten Beziehung,
als Menschen, die ihr Geschlecht wechseln, weil sie das Gefühl haben,
im falschen Körper zu sein,
als Frauen, die in vielen kirchlichen Beratungen und Ämtern
keine Rolle spielen,
als Menschen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften,
die nach wie vor zu hören bekommen,
dass sie nicht so leben dürfen, wie sie empfinden.
Sie suchen Orientierung, suchen sie teilweise in und mit der Kirche,
weil sie sagen, mein eigener Blickwinkel ist zu eng –
und müssen doch erleben, dass sie nicht oder nur sehr eingeengt
und begrenzt gesehen und wahrgenommen werden.
Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen?
Ist das nicht gerade auch ein Satz auf die Kirche hin?
Wo sie und wir mit ihr und in ihr blind geworden sind?
Und im Grunde wegen der Blindheit für die vielen Lebenswirklichkeiten
eben die Menschen in ihren vielfachen Lebenswirklichkeiten verloren haben,
sei es im bewussten Wegschauen, sei es im begrenzten Blick,
wenn Kirche nur auf sich schaut
und ihre eigenen Vorstellungen gelten lassen möchte.
Wer sich übersehen fühlt, erwartet nichts mehr von den Übersehenden
und weigert sich, sich von ihnen führen zu lassen.
Nein: ein Blinder kann keinen Blinden führen.
Weil es der Ergänzung bedarf:
der vielen Blickwinkel, der vielen Talente, der vielen Begabungen,
der vielen Auseinandersetzungen.
Eigentlich genau das, was Kirche von ihrer Idee her sein kann,
so wie wir es in einem Kirchengebet beten:
Keiner kann alles – keiner kann nichts.
Jede und jeder hat etwas, was einzubringen möglich ist,
was den Blick weit macht.
Im Rückblick auf den sogenannten Missbrauchsgipfel in Rom
wurde es sichtbar und – ich meine zurecht – angemerkt:
es haben die Frauen gefehlt, es haben die Opfer gefehlt –
und dadurch wird ein solcher Gipfel blind bleiben.
Darum sagen nicht wenige:
wir stehen am Scheideweg in der Kirche –
und ich glaube, er hat auch zu tun mit dem Satz des heutigen Evangeliums:
Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen?
Er ist Gewissensfrage großkirchlich,
er ist Gewissensfrage bis in die kleinsten Belange.
Und er ist Frage für mich hier an dieser Stelle,
denn mein Blickwinkel ist ja auch nur begrenzt,
braucht den weiteren Blick –
und darum brauchen – für mein Empfinden –
Leitungsämter in der Kirche wie überall
Ergänzungen, dazu kommende Stimmen und Sichtweisen.
Damit wir die Gruben, in die wir sonst fallen, umgehen können.