Aufnahme Marien in den Himmel, 2020
Wir haben die vielen Särge, die Massengräber noch vor Augen
in Bergamo und anderswo aus diesem Frühjahr.
Die Toten mussten weg, die Krematorien liefen rund um die Uhr.
Menschen konnten sich nicht voneinander verabschieden,
sie konnten sich im Krankenhaus nicht sehen,
sie konnten ihre Toten nicht mehr sehen.
Einfach verschwunden. Wortlos. Grußlos. Berührungslos.

Was ist der Mensch? Was ist menschlich?
Auch wenn allen klar war,
dass es hier um die Vermeidung weiterer Ansteckungen ging:
Fragen bleiben.
Und alle, die das hautnah erlebt haben,
werden vermutlich den Schmerz dieser Tage ihr Leben lang nicht los.

Was bedeutet uns der Leib?
Nicht nur, wenn er schön anzusehen ist, gut gebaut, gesund,
alles in richtiger Größe am richtigen Platz?
Was bedeutet er uns, wenn die Falten kommen,
die Vergesslichkeit zunimmt, die Wunden nicht mehr heilen,
die Muskeln schwinden, die Knochen weh tun, die Beweglichkeit abnimmt,
Hören und Sehen vergehen?

Als Papst Pius XII. 1950 erst die Aufnahme Mariens
mit Leib und Seele in den Himmel zum Dogma erklärte,
da stand die Welt noch massiv unter dem Eindruck des 2. Weltkrieges.
Wie war man mit menschlichen Körpern umgegangen,
wie hatte man versucht,
das Letzte aus ihnen herauszuholen, sie auszubeuten,
wie sehr waren die Hemmschwellen gefallen,
die vielen Kriegsopfer, die Ausgemergelten,
die in den Konzentrationslagern zu Tode Gequälten und Ermordeten.
Ausgerechnet jetzt greift die Kirche
einen jahrhundertealten Glaubensgedanken auf
und hängt ihn so hoch auf wie sie kann.
Im Grunde bedeutet dieses Dogma:
Gott sieht und erhebt.
Der ganze Mensch hat bei Ihm Raum.
Mögen Menschen würdelos miteinander umgehen,
mögen sie sich aufs tiefste verletzen äußerlich oder innerlich,
mögen sie jeglichen Respekt voreinander verlieren:
Gott niemals.
Er sieht die Verwundeten, die irgendwo Abgelegten, die Getretenen,
die Zerfetzten.
Er sieht auch all die,
die Menschen nicht mehr sehen konnten in diesem Frühjahr
und auch jetzt noch, da, wo der Tod Menschen überrollt;
Er sieht sie nicht nur, Er hebt sie auf.
Und wenn ich jetzt sage: Er verbindet ihre Wunden,
dann ist das genau so ein bildhaftes Wort
wie der Gedanke dieses Festes der Aufnahme Mariens in den Himmel
mit Leib und Seele.
Alle Wunden sind gesehen, wahrgenommen, ernst genommen,
sie dürfen heilen;
nichts ist verloren, übersehen, übergangen.
Alles findet Vollendung.

Was für ein trostvoller Gedanke:
die Wunden, der Schmerz, der Zerfall, vieles, was wir nicht sehen,
nicht sehen können oder nicht sehen wollen
oder wofür wir den Blick verloren haben, ist bei Gott.
Welch ein würdevolles, das menschliche Leben
in allen Phasen grenzenlos schätzendes Bild begegnet uns;
uns wird sozusagen ein Raum des Bewahrens eröffnet,
den wir in dieser Weise nicht füreinander haben.

Wie sagte der Engel zu Maria, als sie es nicht begreifen konnte,
Mutter des Herrn zu werden:
für Gott ist nichts unmöglich.
Eben darum rufen wir ihn als Gott an.

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