C 15 2022 Lk 10,25-37
Er provoziert – Er schockt –
Er polarisiert – Er ist drastisch –
Er ist nicht diplomatisch – Er reizt.

Manche mögen Ihn dafür –
manche wollen Ihn so schnell wie möglich los werden.
Manche teilen Seine Sicht – manche fühlen sich durchschaut.
Manche atmen auf – manchen stockt der Atem.

Provozieren, Aufregen, Schocken:
bis heute sind das – innerhalb wie außerhalb der Kirche – Gründe,
um Menschen als Unruhestifter abzustempeln,
Gründe, um sie mundtot zu machen oder los zu werden.
Man mag sie nicht so, die Infragesteller, die kritischen Worte,
die deutliche Rede.

Was ist die Kernbotschaft des gehörten Gleichnisses?
Auf eine abstrakte Ebene gehoben könnten wir sagen:
Barmherzigkeit und Liebe sind wie das Passwort,
das uns den Raum des ewigen Lebens aufschließt.
Da widersprechen wir nicht – aber so ein Wort berührt auch nicht besonders.
Darum hat Jesus nicht abstrakt gesprochen, sondern konkret.
Er wollte Resonanz.
Als Er dieses Gleichnis erzählte, hielten viele vermutlich die Luft an:

Den Frommen Seiner Zeit, hier dem Gesetzeslehrer ins Gesicht sagen,
dass einer, der das Gesetz nicht kennt, der Samariter,
es nicht nur eher erfüllt, sondern es überhaupt erfüllt,
im Gegensatz zum Priester und Leviten,
das ist mehr als mutig in den Ohren der einen,
die Ohren der anderen werden es als unverschämt,
vermessen und frech aufgenommen haben.

Dieses Gleichnis hat mehrere Aussagen.
Die eine liegt in der Unterschiedlichkeit der Fragestellung:
„Wer ist mein Nächster?“ fragt der Gesetzeslehrer.
Jesus fragt: „Wem wirst du zum Nächsten?“
Nächste hat man nicht automatisch, Nächste wählt man sich.
Ich selbst, mein Handeln entscheidet, wen ich nah an mich heranlasse,
wessen Geschichte, wessen Leben mir ans Herz geht.

Die andere Aussage ist das vernichtende Urteil Jesu
über den Priester und Leviten und damit über eine Form von Frömmigkeit,
die zwar die Realität sieht,
aber das eigene Handeln davon nicht bestimmen lässt.
Im Originaltext steht das ganze noch viel drastischer:
Priester und Levit gehen sehend in großem Bogen vorüber – heißt es.
Sie wollen erst gar nicht angesprochen werden von dem Verletzten,
sie wollen sich nicht erden lassen.
Was für eine Gegenüberstellung:
Der Samariter geht hin zu dem Verletzten,
Priester und Levit machen einen großen Bogen um ihn.

Ich lese darin eine Frage, eine Herausforderung,
der sich Christen, der sich Kirche zu allen Zeiten stellen muss:
verbleibe ich in meinem gewohnten Trott, vermutlich in bester Absicht,
absolviere mein Programm, meinen Dienst, meine Arbeit,
das, was ich für „Gottesdienst“ halte,
und tue es in einer Weise, die Verletzte, die Hilfsbedürftige links liegen
oder erst gar nicht zu Wort kommen lässt?
In diesen Zeiten der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen
wirkt dieses Gleichnis wie eine Realitätsbeschreibung
angesichts all jener Verantwortlichen,
die sich und die Institution schützen wollten
und darum einen großen Bogen um die Opfer gemacht haben.

Eine weitere Aussage oder Deutung ist,
in Jesus selbst den göttlichen Samariter zu entdecken:
Der, der sich anrühren lässt, die Verwundungen von Menschen sieht,
wo man ihnen Hoffnung und Kraft geraubt,
wo man sie getreten und niedergeschlagen hat –
denn in Jesus lässt Gott selbst Sein Tun und Handeln bestimmen und leiten
von der Not und Niedergeschlagenheit von Menschen.
Jesus bleibt der, der sich herabbeugt, die Tränen abwischt,
die Wunden verbindet.
Er macht sich zum Nächsten aller Leidenden.

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