C 6 2022 Lk 6, 17.20-26
Wieder liegt die Bibelstelle vor mir, in der Jesus die Armen,
die Hungernden, die Weinenden, die Ausgestoßenen selig preist.
Bei der dritten Plenarversammlung des Synodalen Weges
wurde über das „Lehramt der Betroffenen“ diskutiert in der Absicht,
dass Kirche den Missbrauchsopfern nicht eine Stimme gibt,
sondern dass ihre Stimme von sich her
Autorität für die Lehre der Kirche besitzt,
dass in ihnen Christus selbst der Kirche entgegentritt.
Die Synodalen haben sich dazu entschieden,
dennoch auf die Formulierung vom „Lehramt der Betroffenen“ zu verzichten und einigten sich stattdessen auf diese Worte:
Die Kirche „muss auf die Stimme derer hören,
die von kirchlichem Machtmissbrauch betroffen waren und sind.
In ihnen wird nach dem Zeugnis der Hl. Schrift (Mt 5,1-12; Mt 25,31-46)
die Stimme Christi vernehmbar.
Ihr Schrei ist ein besonderer ‚Locus theologicus‘ für unsere Zeit.“

Bis zu einem gewissen Punkt kann ich Debatten wie diesen zuhören,
aber irgendwann schalte ich ab.
Ich verstehe das Ringen um Formulierungen,
die klar und unmissverständlich sind,
entscheidend wird es allerdings nicht auf dem Papier sondern im Alltag.

Nun sitze ich also vor dieser Bibelstelle und frage mich,
was ich dazu sagen kann.
Ich möchte nicht über die Armen, über die Weinenden sprechen.
Ich erinnere mich an meine Tränen, beispielsweise an diese:
Es war während der Schulzeit.
Ich war ziemlich korpulent, war damit nicht zufrieden
und konnte es doch nicht ändern.
Für die anderen Schüler, es war damals eine reine Jungenklasse,
ein „gefundenes Fressen“:
man konnte mich schnell einschüchtern und fertig machen,
die Außenseiterrolle war geschaffen.
Das grausamste war der Sportunterricht:
meine Unbeweglichkeit, meine Schwerfälligkeit.
Einmal war es besonders heftig: zwei Mannschaften wurden gebildet,
der Lehrer hatte die Bändchen vergessen, um kenntlich zu machen,
wer in welcher Mannschaft spielt.
Er kam auf die glorreiche Idee,
dass eine Mannschaft dann mit freiem Oberkörper spielt.
Dieser Mannschaft gehörte ich an. Es war ein Spießrutenlauf.
Meine Mitschüler jagten mich durch die Halle,
weil alles an mir wackelte und hatten ihre helle Freude.
Ich schämte mich. Mir wird heute noch anders, wenn ich daran denke.

Zeitgleich machte ich eine andere Erfahrung.
Ich war Messdiener in der Kirche und fand darin einen Ort,
wo ich sein konnte.
Ich erlebte etwas völlig anderes:
hier wurden Messdiener nicht in Klamotten gesteckt, die ihnen nicht passten, das Gegenteil geschah: hier wurde Messdienerkleidung erworben,
die den Kindern und Jugendlichen passte.
Niemand wurde bloßgestellt.
Mein Heimatpastor sprach mich an,
ob ich in den Ferien Küstervertretung machen wollte. Wie gern.
Ich fühlte Bestätigung und Wertschätzung.
Sie gab mir Kraft, die Schulzeit zu überstehen.
Ich weiß nicht, ob mein Heimatpastor damals „nur“ einen Küster brauchte oder ob er unbewusst mitbekam, was mit mir los war.
Manchmal denke ich, das letztere war der Fall.
Ich erlebte ihn als einen Menschen, der mir Raum gab,
der mir diese Möglichkeit eingeräumt hat.

Das hat die Tränen nicht verhindert, aber ich bin darin nicht ertrunken.
Es hat mir einen Weg eröffnet.
Und darum fiel es mir nicht schwer, vieles von dem anzunehmen,
was sonntags in der Kirche gepredigt wurde. Damals zumindest.

Bis heute ist das mein Bild von Kirche: keine blutleeren Diskussionen sondern einfaches Tun.
Denen einen Ort geben, die sonst (kaum) einen haben.
Eindeutig Partei ergreifen.
Hätte ich diese tiefgründige Erfahrung nicht,
wäre ich nicht mehr in der Kirche.

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