4. Ostersonntag B 2021
„Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind;
auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören,
dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.“

Die Bibelwissenschaftler tun sich schwer damit zu sagen,
wer wohl die „anderen Schafe“ sein könnten, die hier erwähnt werden.
Sie halten fest:
der eigentliche Akzent dieses Satzes ist die große Herde Jesu,
alle unter dem einen Hirten.
Um im Bild zu bleiben:
dass es viele Ställe gibt, viele andere Schafe, das erleben wir:
Verschiedene Ansichten in der Kirche, verschiedene Schwerpunkte,
verschiedene Heimaten, verschiedene Wege.
Es passen nicht alle in einen Stall.
Was für ein Kirchenbild:
entscheidend ist, sich von Jesus führen zu lassen,
nicht dieselbe Luft zu atmen oder unter dem gleichen Dach Zuhause zu sein.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass mit den verschiedenen Ställen
nur verschiedene Gemeinden gemeint sind,
die sich im Grunde kaum voneinander unterscheiden.
Allein der Blick in die heutige Kirche mit ihren Debatten zeigt,
wie anders die Schafe, die Menschen in ihr sein können,
wie divers ihre Heimaten und ihre Hintergründe sind.
Bezeichnenderweise löst Jesus das nicht auf.
Nirgendwo ist die Rede, dass alle in einen Stall gepfercht werden,
denselben Stallgeruch haben müssen.
Keinen Einheitsbrei.

Und niemand aus den Ställen bestimmt, wer zu Jesus gehört.
Die Rollen sind klar verteilt: das Heft des Handelns liegt bei Jesus.
Er weiß sich nicht nur dem einen Ort, dem einen Stall zugehörig.
Vermutlich wird sogar unterschiedlich gesprochen,
je nachdem, wo man gerade zuhört –
und Jesus selbst wird nicht an allen Orten auswendig gelernt
dasselbe sagen;
es wird – gerade so, wie wir es aus den Evangelien kennen –
immer im Dialog geschehen, in der Begegnung,
im Korrespondieren mit denjenigen, die er antrifft.
Dieselbe Stimme, aber nicht unbedingt dasselbe gesprochen.
Ich finde kaum ein stärkeres Bild für das, was Kirche sein kann,
was Einheit in der Vielfalt bedeutet.

Auch die anderen Schafe sind zu führen.
Es gibt keinen exklusiven Anspruch auf den Hirten.
Ein Stall kann nicht sagen: du gehörst ausschließlich zu uns.
Nur hier fühlst du dich wohl.
Nur hier hört man dich richtig.
Nur hier ist alles so, wie du dir das vorstellst.

Vielfalt ist, wenn es auch das ganz andere gibt,
wenn es nicht ausgeschlossen, nicht abgewertet wird.
Vielfalt bedeutet: auch das andere muss möglich sein.
Es ist doch nicht auszuschließen, dass auch im ganz anderen
die Stimme Jesu zu hören ist;
es ist nicht nur nicht auszuschließen, es ist sogar davon auszugehen.
In der Dogmatik, der kirchlichen Lehre,
hat man zumindest theoretisch verstanden,
Dinge nebeneinander zu stellen und stehen zu lassen,
von denen wir eigentlich sagen würden, es geht nur Entweder-oder.
Sowohl als auch, oder lateinisch: et – et ist die Formulierung dafür.

Auch das andere, das Gegensätzliche könnte wahr sein.
Das ist uns doch gar nicht fremd.
Schließlich sagen wir: im Tod ist das Leben.
Gott ist Licht und Dunkelheit.
Jesus ist Gottes- und Menschensohn.
Die Kirche ist sündig und heilig.
Wir Menschen sind aus dem Staub der Erde gemacht
und mit dem Atem des Himmels belebt.
Da ist nichts gegeneinander auszuspielen.
Das Ganze lebt vom scheinbar Widersprüchlichen.
Kaum dass Absolutheitsansprüche einsetzen, bricht es auseinander.

Kardinal Nikolaus von Kues sagt im 15. Jahrhundert:
Gott ist die unendliche Einheit von allem.
In ihm fallen alle Gegensätze zusammen.

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