Jahreswechsel 2023
Ich möchte unseren Blick erneut auf die große Holzkrippe lenken,
heute auf den Engel.
Der Engel schält sich heraus aus dem Baumstamm, er ist noch nicht fertig.
Wir sehen Ecken und Kanten, Risse, Kerben.
Mich spricht die Deutung an, die Pater Zacharias,
der Schaffer dieser Krippendarstellung, dem Engel damit gibt:
Als Menschen sind wir unfertig,
in uns sind Worte und Gedanken, die Bearbeitung brauchen.
Es geht nicht alles auf einmal.
Wir brauchen Reifezeit.
In uns ist mehr hineingelegt, als uns bewusst ist und jemals bewusst wird.
Zeit ermöglicht Entfaltung und Entwicklung.
Es ist nicht nur noch nicht alles gesagt und gesehen,
es ist auch noch nicht alles gehört.

Andererseits: geht ALLES?
Wäre es nicht Überforderung, der Zeit alles abzugewinnen?
Wäre es nicht Überforderung, alles aus uns herauszuholen,
alles zu hören, was in uns ist?
Gibt es nicht auch so etwas wie die „Gnade des Unperfekten“,
Potential, das liegen bleibt und liegen bleiben darf?
Es entlastet, wenn wir unvollkommen sein dürfen.
In unserer Gesellschaft, die auf Effizienz und Leistung getrimmt ist,
halten immer mehr Menschen dem Druck der Perfektion nicht mehr stand
und werden seelisch krank.
Das Nicht-Perfekte und die Nicht-Perfekten werden all zu schnell aussortiert.
Damit zerfällt nicht nur die Gesellschaft sondern das Leben selbst.

In der uns umgebenden Natur merken wir, welche Folgen es hat,
wenn versucht wird, alles aus ihr herauszuholen,
wenn die Böden ausgelaugt sind und die Grünflächen verschwinden:
Lebensgrundlagen gehen verloren. Das Gleichgewicht gerät durcheinander.
Mir sagt das: ich kann, darf und muss nicht aus der Zeit,
nicht aus meinem Leben alles heraus pumpen,
auch das nicht Gehobene entfaltet seine Kraft und trägt das Ganze mit.

Ungenutzt verstrichene Zeit ist nicht einfach weg.
Sie hat ihren Wert und ihre Bedeutung
wie nicht bebaute und nicht bepflanzte Flächen ihre Notwendigkeit haben.

Diesen Gedanken des Unfertigen und nicht glatten
in einer Engeldarstellung anzudeuten
finde ich fast wie eine notwendige Korrektur zu dem,
wie wir oftmals Engel sehen:
Rosig, niedlich, pausbäckig, glatt, kitschig, belanglos.
So ist das Leben nicht – und so sind diejenigen nicht,
die die Bibel als Botinnen und Boten Gottes schildert.
Was Gott durch Menschen in der Welt sagen will,
schält sich heraus, wächst heraus.
Es fällt nicht vom Himmel.
Weihnachten sagt mir: es nimmt den blutigen Weg der Geburt.

Auch unsere Welt ist nicht fertig. Sie ist nicht perfekt.
Sie ist verletzlich und zerbrechlich. Sie ist im Werden. Von Anfang an.
Das „Gott sah, dass es sehr gut war“,
was die Bibel als Wort Gottes von jedem Schöpfungstag berichtet,
harrt noch auf Bestätigung;
und zugleich ist das „Gott sah, dass es sehr gut war“
die gütige Aussage am Ende eines jeden Tages:
Versöhnung mit dem, was noch nicht ist und vielleicht auch nicht wird.
Sehr gut heißt nicht: eins a, nicht makellos, nicht faltenfrei, nicht perfekt –
sehr gut heißt: Gott liebt es –
und wir wissen, wofür sein Herz besonders schlägt.

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